DONNERSTAG, 14. NOVEMBER 1974

Arholzen hat keine Kirche mehr

Unter dem Druck zweier Planierraupen stürzten Kirchenschiff und Turm zusammen


Der Platz, auf dem die zwischen 1622 und 1651 errichtete Kirche in Arholzen gestanden hat, ist leer. Sie war dem Ausbau der Hauptstraße im Wege und wurde jetzt mit Hilfe zweier Planierraupen abgerissen. Der Abbruch, für den das Bauunter­nehmen Wilhelm Timmermann aus Negenborn den Auftrag erhalten hatte, ging in mehreren Phasen vor sich. Knapp anderthalb Tage später war auch der Trümmerhaufen verschwunden. Der zwischen Samtgemeinde, Gemeinde und Kirchenkreisamt geschlossene Gestattungsvertrag ermöglicht nun den Gottesdienst bis 1976 einschließlich in einem Raum der Schule.


Die Bevölkerung Arholzens nahm an dem Abbruch der Kirche regen Anteil. Trotz eisi­gen Novemberwindes harrten die Menschen stundenlang aus, um das Ende der Kirche, die in ihrer baulichen Konzeption eher einer Kapelle ähnelt, mitzuverfolgen. Ein Land­wirt, inzwischen 90 Jahre alt, sagte, wäh­rend sich die Planierraupen Anfahrrampen schufen, um als eine der schwierigsten Ar­beiten überhaupt, den Turm zu beseitigen: „De Kerken mutt woll weg, jawoll!" Doch dann standen dem alten Herrn, als die Turm­spitze plötzlich mächtig ins Schwanken ge­riet, Tränen in den Augen. Wieviel Taufen und Hochzeiten außer den eigenen hat er in dem Gebäude miterlebt! Auch andere Bür­ger, mit denen man rasch ins Gespräch kam, weil es an diesem rauhen 'Vormittag nur einen Diskussionsstoff gab, schienen bewegt, wie hier mitten in Arholzen Zug um Zug gewissermaßen ein Todesurteil vollstreckt wurde.

Begleitet wurde der Abbruch vom Geläut der einzigen aus dem Turm geborgenen und auf dem Schulhof aufgestellten Glocke, die Kirchenküster Karl Seitz das erste Mal be­reits gegen 8 Uhr in der Frühe zum Erklin­gen brachte. Auf die Frage Bürgermeister Otto Heckemüllers, warum er, Seitz, die elektrisch betriebene Glocke in Gang gesetzt habe, ob vielleicht jemand gestorben sei. sagte der .Küster: „Sie wissen es noch nicht'' Heute wird doch unsere Kirche abgebro­chen!" Karl Seitz versetzte die Glocke an diesem Vormittag insgesamt achtmal in Schwingungen.


Als dann die stärkste der beiden Planier­raupen den Greifer zur vollen Höhe ausfuhr und einige Male behutsam gegen die Kirchturmspitze drückte, rutschte die Spitze leicht zur Seite. Im Fachwerk krachte und knirschte es.Ein Stahlseil aus Holzminden geholt, wurde buchstäblich noch im letzten Au­genblick im Turm befestigt. Während die eine Raupe das Stahlseil kräftig anzog, schob die schwere Schwester auf der anderen Seite, und plotzhch sackte der Turm und mit ihm ein Teil des aufgehenden Mauerwerkes des Erdgeschosses in sich zusammen. Im Nu hatte sich eine riesige Wolke aus Lehmstaub gebildet.In ihr waren zum Teil die interessierten Burger verschwunden, die danach zu den Turm-Trümmern liefen, um zu sehen, was er an Geheimnissen wohl preisgeben würde Denn Urkunden wurden früher beim Kir­chenbau nicht wie heute üblich im Funda­ment, sondern in der Turmspitze eingelassen.

Doch eine Urkunde fand man nicht. Was der Herr Bürgermeister vielmehr aus der me­tallenen Kugel der Spitze barg, sah eher nach einem Blatt aus einem Rechnungsblock aus. Darauf war ein Datum vermerkt, näm­lich der 9. September 1905. Der noch lesbare Text lautet: „Die Turmspitze wurde infolge eines Blitzschlages zerstört und in der Zeit vom 20. August bis 9. September von den Dachdeckern August Schmidt und Heinrich Schmidt..." dann wird der Zettel Zusehens unleserlich, es taucht lediglich noch der Name August Stichweh auf, ohne daß hier jedoch ein Zusammenhang hergestellt wer­den kann.Diese „Urkunde" ist jetzt im Besitz des Kirchenkreisamtes Holzminden. Der Verwal­tungsangestellte Dieter Bofchers hat sie mit­genommen. Zwei der aus dem Turm zuvor ausgebauten Glocken sind vorläufig bei Landwirt Reinhöld Sporleder untergebracht. Die eine noch im Dienst stehende, die sich in einem Glockenstuhl auf dem Schulhof be­findet, trägt die Inschrift: „Land, Land höre des Herrn Wort" und darunter „Ich habe meine 350 Jahre alte Schwester im Jahre 1963 abgelöst!"

Altar und alte Orgel, es handelt sich dabei um die dritte, die die Arholzener Kirche besaß, sind auf Weisung des Amtes für Bau-und Kunstpflege der hannoverschen Landes­kirche in einem Lager bei Elze untergebracht worden. Dorthin sind auch vier Gedenkstei­ne, allesamt aus massivem Sollingsandstein, transportiert worden. Inzwischen hat sich herausgestellt, daß es noch mehr Gedenk­steine mit prachtvollen, noch heute gut les­baren Initialen gibt, die sich ein Privatmann an die Seite stellen ließ. Die Steine Sind in der Vergangenheit in der Kirche als Fuß­bodenbelag verwendet worden. Auch in diesem Fall soll nun auf dem Vermittlungswege des Kirchenkreisamtes Holzminden das Amt für Bau- und Kunstpflege der hannover­schen Landeskirche interessiert werden. Mit den Steinen hat es eine Bewandnis. Sie ha­ben auf dem alten Arholzener Friedhof ge­standen, der sich, wie alte Leute glaubhaft versichern, auf dem Grundstück ausdehnte auf dem die Kirche bis jetzt gestanden hat.


Die Kirche war alles andere als ein Prunkbau. Es handelte sich bei dem Gebäu­de vielmehr um einen schlichten Zweckbau. Einer Darstellung aus dem Jahre 1750 zu­folge war das Kirchengebäude klein, bau­fällig und schlecht. Rechts neben dem Al­tar staind damals noch ein Beichtstuhl. Eine Orgel gab es nicht. In dem 1651 entstan­denen Turm, der von Fachleuten auf 35 Meter Höhe geschätzt wurde, arbeitete bereits eine sogenannte Schlaguhr. Diese Uhr ist damals auf Kosten der Einwohner der Gemeinde Arholzen 1707 in Einbeck erworben worden. Zwei Glocken gehörten zur Kirche, die eine 1610 und die andere 1704 gegossen. Die aus dem Jahre 1704 stammende Glocke, es war dies die größere, ist im letzten Krieg eingeschmolzen worden. Häu­ser, die heute unmittelbar an das Kir­chengrundstück grenzen, stehen auf dem einstigen Dorffriedhof. Noch heute soll die Diele der alten Schule an der Hauptstraße etwas schräg gegenüber von der Gemeinde­verwaltung mit alten Grabsteinen als Fuß­boden-Ersatz ausgelegt sein.

Auf die Frage, was aus der Kirchturmuhr geworden ist, sagte uns der Bürgermeister daß sie an ein Museum in Dillenburg ge­gangen sei. Wo die kleine Glocke bleibt die außen am Turm hing, war nicht genau zu erfahren. Letzten Sonntag war bereits Gottesdienst im hinteren Schulraum. Pastor Hohn aus Deensen ist seit dem 1. Oktober 1974 tur Arholzen seelsorgerisch zuständig Der Gottesdienst war gut besucht. Alle vierzehn Tage wird dazu eingeladen. Die Ge­meinde zählt im Moment 622 Einwohner

Am Tag, als alles in der alten Kirche zu­sammenstürzte, zuerst Decken und Wände des Kirchenschiffs und zuletzt der Turm sahen nicht nur Bürger Arholzens zu Aus der Umgebung der Gemeinde waren Leute gekommen. Ein Rentner mit rotgefrorenen Ohren suchte, als alles vorbei war nach etwas Bestimmten. Dann sah er es in der Hand eines Baumenschen. Er fragte- Ist der Hahn noch heil?" Gemeint war der Wet­terhahn, ihm fehlte nichts!